Studientag „Inklusive Kinder- und Jugendhilfe“ – Ein Rückblick
Inklusion als politisch-programmatische Forderung steht für einen gesellschaftlichen Zustand, in dem die gleichberechtigte und selbstbestimmte Teilhabe von Menschen mit Behinderungen gewährleistet ist. Bislang konzentrieren sich die politischen und fachlichen Debatten zu Inklusion in Deutschland schwerpunktmäßig auf die Umsetzung im Bildungswesen. Wenig diskutiert wird hingegen Inklusion mit Blick auf die Handlungsfelder der Kinder- und Jugendhilfe.
Beim Verfassen dieses Berichtes zum Studientag „Inklusive Kinder- und Jugendhilfe“ erinnerte mich an meine Studienzeit. In einer Seminararbeit zum Wahlrecht der BRD stieß ich auf die Einführung des Frauenwahlrechtes. Ich staunte nicht schlecht. Das für mich selbstverständliche Frauenwahlrecht wurde in Deutschland 1918, in der Schweiz gar erst 1971 eingeführt. Vielleicht werden sich zukünftige Studierende fragen, wie wir so lange über Inklusion reden konnten, warum wir nicht gesehen haben, dass Behinderung vorrangig ein soziales Problem ist und eigentlich aus gesellschaftlichen Barrieren besteht, die behinderte Menschen daran hindern, ihre vollen Bürgerrechte wahrzunehmen? Dass Inklusion letztlich bedeutet, eine Wahl zu haben und unsere heutige Gesellschaft die dafür notwendigen Alternativen nicht immer vorhält?
Der von Fachleuten wie Studierenden gut besuchte Studientag war ein wertvoller Beitrag für diese Debatte. Prof. Dr. Kerstin Rock hatte ein gelungenes Programm aus wissenschaftlichem Input und Praxisbeiträgen zusammengestellt.
Mit Prof. Dr. Dr. Reinhard Wiesner eröffnete kein geringerer als der „Vater“ des Kinder- und Jugendhilfegesetzes den Studientag mit dem Vortrag „Stand und Herausforderungen der Umsetzung einer inklusiven Kinder- und Jugendhilfe“. Wiesner war lange Abteilungsleiter im Kinder- und Jugendministerium und ist heute als Honorarprofessor an der Freien Universität Berlin tätig. Er konnte die aktuellsten Informationen zur laufenden Novellierung des Kinder- und Jugendhilferechts, die zentrale rechtliche Grundlage für die Kinder- und Jugendhilfe, einem großen Handlungsfeld der Sozialen Arbeit, liefern.
Das Kinder- und Jugendhilfegesetz trat 1991 in Kraft und löste das bis dahin geltende deutsche Jugendwohlfahrtsgesetz ab. Eine der Neuerungen lag im §35a, der die Kinder- und Jugendhilfe zum Rehabilitationsträger erklärt. Sie ist damit zuständig für die Eingliederungshilfen von seelisch behinderten bzw. von seelischer Behinderung bedrohten Kindern und Jugendlichen. Kinder mit geistiger und körperlicher Behinderung hingegen sind im Zuständigkeitsbereich der Sozialhilfe geblieben mit der Konsequenz, dass bei komplexen Störungsbildern wie Autismus, ADHS oder Mehrfachbehinderung weiterhin die Frage nach der Zuständigkeit strittig ist.
In der aktuellen Gesetzesnovellierung steht die Umsetzung der sogenannten großen Lösung zur Diskussion. Alle behinderten Kinder und Jugendlichen sollen nicht länger dem Sondersystem „Behindertenrecht“ zugeordnet werden, sondern der für die Lebenslage von Kindern und Jugendlichen insgesamt zuständigen Kinder- und Jugendhilfe. Die bislang bekannten Arbeitsentwürfe zur Reform wurden von Prof. Wiesner kritisch kommentiert. Trotz der schweren und etwas trockenen Thematik konnte Prof. Wiesner mit seiner brennenden Leidenschaft für die Materie das Publikum für sich und diese Thematik gewinnen.
Nach Präsentation der rechtlichen Rahmenbedingungen wurde in den Workshops der Frage nachgegangen, wie Regelangebote der Kinder- und Jugendhilfe inklusiv gestaltet werden können. Es zeigte sich, dass es im Saarland einige vielversprechende Ansätze gibt. Zu folgenden Themen wurden Praxisansätze und Modellprojekte vorgestellt und diskutiert:
- Kinder mit erhöhten Förderbedarf in der Vollzeitpflege (Kirsten Heigl, Lebenshilfe Saarbrücken)
- Probleme, Chancen und Perspektiven des Einsatzes von Integrationshelfer/innen in Regelschulen (Heinz Theisen & Katharina Pohl, Jugendzentrum Saarbrücken und Prof. Dr. Kerstin Rock & Christina Pöhland, htw saar)
- Inklusive Jugendarbeit (Andrea Becker, MLL)
- Traumpädagogische Ansätze in der Heimerziehung – Qualifizierung zum Umgang mit Kindern und Jugendlichen mit psychischen Auffälligkeiten (Anja Charrois, Stiftung Hospital St. Wendel & Marion Moos, ism)
- Inklusion in Kindertagesstätten (Claudia Wölk & Manfred Engstler, Lebenshilfe Völklingen)
Im Abendvortrag „ Inklusion als Merkmal oder Ziel der Kinder- und Jugendhilfe – Was ist das sozialpädagogische Inklusionsproblem?“ warf Prof. Dr. Holger Ziegler von der Universität Bielefeld einen kritischen Blick auf die Thematik. Inklusion ist für ihn ein Mittel bzw. Qualitätsmerkmal der Kinder- und Jugendhilfe, Hilfen sollen inklusiv gestaltet werden. Als Ziel der Kinder- und Jugendhilfe ist Inklusion aus seiner Sicht aber nicht geeignet, da die ungleiche Verteilung von Ressourcen und die Zugänge zu ihnen in unserer Gesellschaft in der Inklusionsdebatte nicht offen thematisiert, sondern teilweise sogar verschleiert werden.
Insiderwissen, spannende, provozierende und fundierte Kenntnisse, volles Plenum und gut besuchte Workshops – der Studientag war ein großer Erfolg. Er hat die Studierenden aber nicht nur rein fachlich weitergebracht. In einem Vorbereitungsseminar arbeiteten sie sich in das Thema ein und wurden in die Organisation des Studientages mit eingebunden. Es galt, Kontakt mit den Workshop-Referenten aufzunehmen und organisatorische und logistische Fragen zu klären. Am Studientag selber moderierten die Studierenden in den Workshops die Referenten an. Prof. Rock hat sich für das Orga-Team ein ganz besonderes Schmankerl ausgedacht: als Dankeschön geht es in ein Dunkelcafé. Passend zur Thematik – Perspektivwechsel inklusive.
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