Gegen alle Widerstände zum Hochschul-Abschluss
Die htw saar lässt sich derzeit im Rahmen eines Audits in Sachen Diversity auf Herz und Nieren prüfen. Daraus entstanden ist das Label „Faktor Vielfalt“, unter dem zukünftig Maßnahmen und Aktionen zu finden sind. Die erste öffentlichkeitswirksame Maßnahme ist eine Aufsteller-Aktion an den Standorten der Hochschule. Dazu wurden an der Hochschule 13 Interviews durchgeführt, denn Vielfalt zeigt sich in den unterschiedlichen Studien-, Bildungs- und Berufswegen sowie Lebensläufen der Studierenden und Beschäftigten der htw saar. Diese Vielfalt beeinflusst und bereichert unseren (Hochschul-)Alltag. Überzeugen Sie sich in unserer neuen Reihe von unserem Faktor Vielfalt!
Diesen Monat stellen wir Ihnen Mike Zawar vor:
Mike Zawar wuchs in ärmlichen Verhältnissen auf. Sein Vater starb früh und seine Mutter hatte ihre liebe Mühe, die kleine Familie über Wasser zu halten. Für sie stand fest: sobald der Junge den Hauptschulabschluss in der Tasche hat, fängt er eine Lehre an und verdient sein eigenes Geld – eine Sorge weniger. Sie hatte die Rechnung ohne ihren Sohn gemacht. Er wollte aus der Armut heraus, den Führerschein machen, mal in Urlaub fahren und sich etwas leisten können. „Wirtschaft und Börse zogen mich magisch an.“ Sie waren sein Weg aus dieser Situation. Einen Riecher für Geld und Handel bewies er bereits in der Hauptschule. Das Taschengeld vom Großvater investierte er in Energy-Drinks, die er auf dem Schulhof mit gutem Gewinn verkaufte.
Trotz Protesten von zu Hause besuchte er die Handelsschule. Als er weiter auf die Fachoberschule ging, trennten sich die Wege. Er ließ sich auch davon nicht entmutigen, suchte Beratung bei Ämtern und schaffte es, eine eigene Bleibe und die FOS-Zeit zu finanzieren.
„Ich wollte Investmentkaufmann werden und machte mein FOS-Praktikum bei einer Bank.“ Eine heilsame Erfahrung, denn nach dem Jahr stand für ihn fest: auf keinen Fall würde er Banker werden! Ein Jahr nach dem Beginn der Finanzkrise war es „kein schönes Geschäft auf der Bank“. Wirtschaft hingegen faszinierte ihn noch immer. Mit einem ausgezeichneten FOS-Abschluss bewarb sich Mike Zawar für den Studiengang Betriebswirtschaftslehre an der htw saar.
Im Oktober 2014 begann das Studium zunächst mit einem Paukenschlag, aber von Anfang an: Am ersten Tag der Orientierungswoche fielen ihm Studierende auf, die kostenfreie Getränke verteilten. Es war die Fachschaft des Studiengangs. Er erkundigte sich, wer sie sind und was die Aufgaben einer Fachschaft sind und wurde direkt Mitglied. „Für die Studierenden etwas tun, fand ich ganz wichtig. Wir haben tolle Projekte und Feste organisiert“ erinnert er sich an die ersten Monate an der Hochschule.
Der Paukenschlag kam in den Vorlesungen, oder wie Mike Zawar es ausgedrückte: „Ich bin erst mal auf die Fresse geflogen. Die Stoffmenge war ein Ding der Unmöglichkeit und dann diese Mathematik, oh mein Gott, ich komme von der Fachoberschule und die machen hier eine Mathematik…Nach zwei, drei Wochen bin ich nicht mehr in die Vorlesungen gegangen. Ich dachte, das schaffe ich nicht.“ In der vierten Woche sah sein Hochschulalltag ganz entspannt aus: er ging in die Fachschaft, besuchte keine Vorlesung und ging zu keiner Klausur. Die Folge: Er startete in das zweite Semester mit null ECTS und sechs Fehlversuchen.
Wie konnte er so zum Jahrgangsbesten werden? Kollege Zufall griff ein, um genau zu sein, Kollegin Zufall. Mike Zawar lief mit einem Freund im November 2014 durch die Flure der Hochschule. Michaela Bäumchen, eine Mitarbeiterin aus dem CLIX-Team der htw saar, dreht sich in diesem Moment um, schaut beide an und sagte: „Ihr sucht doch bestimmt eine Hiwi-Stelle!“ Mike Zawar zeichnete ab dann Vorlesungen auf und besuchte selber keine. Am Ende des Semesters nahm er seinen ganzen Mut zusammen und vertraute sich Michaela Bäumchen an. Sie staunte nicht schlecht, dass ihr Hiwi im Semester keine Vorlesung besucht hatte.
„Ich dachte, es ist mein Fehler, es ist mein Problem. Die anderen haben genug zu tun. Ich wollte niemandem zur Last fallen.“ Davor hatte er sich beim Innenministerium beworben. „Oder doch eine Ausbildung – zurück zur Bank? Das passt nicht zu mir. Also alles oder nichts!“ Und wie. Er ging zum Vorsitzenden des Prüfungsausschusses, erklärte seine Situation und beide vereinbarten, dass er Nachholklausuren teilweise schieben konnte. So schaffte er es mit viel Disziplin und großem Durchhaltevermögen alles aufzuholen. „Ich ziehe das Ding durch, aber nicht nur >Hauptsache bestehen<. Ich will bessere Noten. Entweder ganz oder gar nicht.“ Mit dem Bestehen der ersten Klausuren war der Knoten geplatzt, es wurde so gut, dass er am 22. Juli 2017 auf der Bühne im EWerk vor 1600 Gästen als einer der zehn Jahrgangbesten der htw saar einen Besten-Ring in Empfang nehmen konnte.
Heute würde Zawar jedem raten, rechtzeitig mit den Leuten zu reden und in die Fachschaft einzutreten. „Es kann mir keiner weismachen, dass ich der einzige in dem Jahrgang war, der dachte, dass das zu viel sei, der dachte, ich verstehe nichts. Versucht das nicht selber, vertraut euch jemandem an.“
Das verlorene erste Semester wertet Zawar nicht als Verlust. „Das Semester war mein größter Gewinn von allen Semestern. Es zeigt mir eins: das passiert nicht nochmal. Man lernt nur von Niederlagen.“
Ganz stolz zeigt Mike Zawar seine neue Immatrikulationsbescheinigung. Nach zwei Semestern an der Universität ist er wieder an der htw saar eingeschrieben. „Ich fühle mich wie zu Hause. Ich bin seit gestern 13:30 Uhr wieder Student an der htw saar – das zeig ich jedem immer mit Stolz (er hält die Immatrikulationsbescheinigung hoch) – ich mache meinen Master hier fertig.“ Er spricht dabei von der Hochschule und ihren Beschäftigten wie von einer Familie. Man hat das Gefühl, dass er sich wieder daheim fühlt. Es ist kein Wunder, dass er die Werte der Fakultät lebt, die im Leitspruch wunderbar zusammengefasst sind: Wir vermitteln mehr als Wissen. Verantwortung zum Beispiel: „Bevor ich jemanden ausbeute, mache ich lieber nichts. Wenn ich kein vernünftiges Gehalt zahlen kann, dann stimmt mein Geschäftsmodell nicht. BWL wird häufig mit Personalabbau, Kostensenkung und Gewinnmaximierung gleichgesetzt, mit der Ausbeutung vieler für den Gewinn Einzelner. Das darf es aber nicht sein. Es muss mehr sein. Man muss Menschen motivieren, Loyalität fördern, sie wertschätzen und am Erfolg teilhaben lassen.“
Was ist für Mike Zawar Vielfalt?
„Ein Mensch kann nicht wissen, was er nicht weiß. Durch Vielfalt kann ich diese blinden Flecken aufdecken. Ich sehe andere Dinge, treffe bessere Entscheidungen oder nehme einfach nur mehr Rücksicht. Wie oft macht man gedankenlos eine Bemerkung, die andere verletzen kann? Vielfalt sensibilisiert und macht offener. Das ist ungemein wertvoll.“
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