Ein Planet, viele Welten
Am 25. Juni 2019 veranstaltete die Fakultät für Sozialwissenschaften der Hochschule für Technik und Wirtschaft des Saarlandes ihren vierten Studientag mit dem Titel „Experiences matter – von und mit Adressatinnen und Adressaten der Sozialen Arbeit lernen.“ Studientage erlauben es, Themen semester- und studiengangsübergreifend zu diskutieren. Dabei werden Themen gewählt, die von besonderer gesellschaftlicher Bedeutung sind oder aktuell im fachlichen Diskurs kontrovers diskutiert werden.
Der diesjährige Studientag widmete sich ganz den Adressatinnen und Adressaten der Sozialen Arbeit und der Erweiterung ihrer Rolle. Mit dem Konzept des Service User Involvements, der Einbeziehung der Adressatinnen und Adressaten der Sozialen Arbeit in die Lehre, geht die Soziale Arbeit neue Wege. Vorträge und Workshops lieferten den Studierenden Anstöße zum Nachdenken, Austauschen und Diskutieren. „Sie sollen irritiert und zum Perspektivwechsel ermuntert werden,“ forderte Prof. Dr. Charis Förster die Studierenden zu Beginn des Studientages auf – diesem Ziel ist der Studientag auf jeden Fall gerecht worden.
Das Konzept des Service User Involvements in Social Work Education (SUI) wurde vor etwa 20 Jahren in nordeuropäischen Ländern entwickelt und ist seit 2003 in Großbritannien verpflichtender Teil des Studienbetriebs. Es sieht die systematische Einbindung der Adressatinnen und Adressaten der Sozialen Arbeit in Lehre und Studium vor. Adressaten der Sozialen Arbeit sind Menschen, die persönliche Erfahrung mit dieser gemacht haben, weil sie selber Hilfen in Anspruch nehmen oder weil sie Angehörige von Hilfeempfängern sind. Wie facettenreich dies ist, zeigt ein Blick auf die Workshopangebote des Studientages: Die Studierenden kamen mit geflüchteten jungen Frauen zusammen, die sich mit Hilfe des SOS-Kinderdorfes und Qualifizierungsmaßnahmen neue Perspektiven erarbeitet haben, mit behinderte Menschen, die als Integrationslotsen ihre Erfahrungen an andere Betroffene weitergeben, mit Angehörigen, die Unterstützung von einem ambulanten Hospiz-Dienst erhalten haben, mit ehemaligen Heimkindern und mit einem jungen Mann, der mit einer Selbsthilfegruppe versucht, mit seinen psychischen Belastungen umzugehen.
„Bis dato bleiben diese Menschen mit ihren Erfahrungen außen vor“ erklärt Prof. Dr. Kerstin Rock, die das SUI-Konzept als Studientagthema auswählte und mit ihren Kursen den Tag vorbereitet und organisiert hatte. Service User in die Lehre der Sozialen Arbeit einzubeziehen hat vielversprechende Potenziale: Studierende werden für die Sichtweisen der Service User sensibilisiert, sie erkennen ihre eigenen stereotypen Vorstellungen von Klienten, gewinnen an Empathie und sie stellen die Verbindung zwischen Theorie und Praxis her. Auch die Service User profitieren von diesem Konzept. Sie gewinnen an Selbstvertrauen und Selbstbewusstsein, sie erfahren Wertschätzung, sie leisten einen Beitrag zur Qualität zukünftiger Sozialarbeit und entwickeln weitere Fähigkeiten, die zu neuen beruflichen Optionen führen können.
Zugleich steht die Soziale Arbeit bei diesem Ansatz vor großen Herausforderungen. Die Kriterien für die Auswahl der Service User, Möglichkeiten und Grenzen ihrer Qualifizierung ebenso wie die Gefahren von Überforderung müssen bedacht werden. Das Verhältnis von wissenschafts- und erfahrungsbasiertem Wissen muss gut austariert sein. „Auf Seiten der Fachkräfte braucht es die Kompetenz, im Dialog mit dem Betroffenen die individuelle Lebens- und Problemsituation unter Berücksichtigung objektiver Perspektiven zu analysieren und zu verstehen. Auf Seiten der Adressatinnen und Adressaten braucht es die Beteiligung an Prozessen und Entscheidungen im Kontext der Hilfe, die wiederum von den Fachkräften zu ermöglichen und zu befördern oder auch zu verhindern und zu begrenzen ist. Hier sehe ich genau das Potential der Beteiligung von Adressaten an Lehre und Studium,“ erklärt Rock.
Der aus erster Hand gewährte Einblick in Biografien und Lebensumstände von Menschen, die auf Unterstützung angewiesen sind, ermöglicht es Studierenden neben Methodenwissen und theoretischem Wissen ein vertieftes Verständnis für soziale Probleme zu entwickeln. Sie gelangen zu einzigartigen Erkenntnissen über Sozialisationsbedingungen, über Lebenslagen, über Bedarfe von Adressaten die sie in Beziehung zu dem theoretisch erworbenen Wissen setzen können. Außerdem kann so Respekt vor den Lebensleistungen und Bewältigungsstrategien der Betroffenen entstehen. „Diese Form des Perspektivenwechsels fördert eine wertschätzende und offene Haltung gegenüber den Adressatinnen und Adressaten was die Voraussetzung ist, um in der späteren Berufspraxis subjekt- und lebensweltorientiert agieren zu können,“ fasst Prof. Rock die Vorteile dieses Konzeptes zusammen.
In Deutschland ist das SUI-Konzept trotz der positiven Erfahrungen aus dem Ausland erst vereinzelt aufgenommen worden. „Für die deutsche Ausbildungslandschaft kann festgestellt werden, dass Service User momentan am Studienangebot für soziale Berufe weder in der Lehre noch in den Selbstlernphasen wirklich beteiligt sind. Das gilt auch für unsere Studiengänge im Studienbereich Soziale Arbeit,“ konstatiert Prof. Rock. „Wenn Studierende Service Usern begegnen, dann als Gastreferenten in Lehrveranstaltungen oder im Rahmen von Exkursionen und Praxisbesuchen.“ Erklärtes Ziel von Prof. Rock ist es, dieses Konzept an der htw saar zu etablieren. Nach einer systematischen Auswertung des Studientages auf der Basis einer Online-Befragung der Teilnehmenden soll ein Austausch mit allen Dozierenden der Fakultät für Sozialwissenschaften iniiiert werden, um Möglichkeiten der Umsetzung des SUI-Konzeptes auszuloten. Sofern hierfür Drittmittel eingeworben werden können, ist ein Projekt vorgesehen, dass eine strukturelle Implementierung von Adressatenbeteiligung in der Lehre zum Ziel hat.
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