Geschichte der Heimerziehung – Betroffenen Gehör verschaffen
Im Sommersemester 2015 haben sich Studierende des Bachelor-Studiengangs „Soziale Arbeit und Pädagogik der Kindheit“ unter der Leitung von Frau Prof. Dr. Ulrike Zöller an der Fakultät für Sozialwissenschaften mit der Geschichte der Heimerziehung befasst. Das unfassbare Leid, das Heimkindern besonders in den 1950er und 1960er Jahren angetan wurde, war für die Studierenden schwer zu ertragen. Im Seminar wurde daher versucht, mit ethisch-theoretischen Kategorien wie Gerechtigkeit, Anerkennung und Verantwortung darüber nachzudenken, wie Unrecht und Leid sichtbar und hörbar gemacht werden können.
Eine Initiative von Studierenden hat schließlich vorgeschlagen, die Geschichte der Heimerziehung im Rahmen eines Studientags weiter zu verfolgen, damit alle Studierende des Studienbereichs die Möglichkeit haben, sich mit diesem Thema auseinanderzusetzen. Im Sommersemester 2016 wurde als Reaktion darauf das Wahlpflichtseminar „Geschichte der Heimerziehung“ von Frau Prof. Dr. Ulrike Zöller angeboten, in dem der Studientag mit Titel „Geschichte der Heimerziehung – Betroffenen Gehör verschaffen“ geplant und vorbereitet wurde. Die Studierenden des Wahlpflichtseminars haben zum Gelingen des Studientags in Form von Gestaltung der Räume, Bestuhlung der Aula, Verpflegung, Moderation und Organisation der Workshops beigetragen. Die Fachschaft hat die Idee des Studientags konstruktiv aufgenommen und diesen sowohl ideell als auch finanziell unterstützt.
Der Studientag bot den Studierenden des Studienbereichs „Soziale Arbeit und Pädagogik der Kindheit“ ein Forum, in dem sie sich fachlich und reflexiv mit dem Thema beschäftigen konnten. Eine Besonderheit des Studientags war, dass Vertreter aus Wissenschaft und Praxis sowie ehemalige, betroffene Heimkinder für den Studientag eingeladen wurden und begrüßt werden konnten. Daraus ergab sich für die Studierenden die Möglichkeit, miteinander über die eigenen Vorstellungen der beruflichen, fachlichen und selbst erfahrenen Perspektiven Sozialer Arbeit hinaus in den Dialog zu treten.
Für den Einführungsvortrag konnte Herr Prof. Dr. Sieder von der Universität Wien gewonnen werden. Sein Vortrag über die „Therapeutische Nacherziehung oder Strafe und Tortur. Zwei Paradigmen der Fürsorgeerziehung der Stadt Wien (1910er-1970er Jahre)“ stellte eindrücklich dar, warum sich auch in der Stadt Wien das Straf-Paradigma in enger Kooperation mit dem rassenhygienischen Paradigma der Kinder- und Jugendpsychiatrie bzw. der Wiener „Heilpädagogik“ durchsetzen konnte.
Darauf folgten die von den Studierenden geplanten und moderierten Workshops zu folgenden Themen:
- Der Fonds Heimerziehung und seine Auswirkungen (Anlauf- und Beratungsstelle Heimerziehung des Saarlandes und Betroffene)
- Geschlossene Einrichtungen (Prof. Dr. Manfred Kappeler, Berlin)
- Sexualisierte Gewalt (Prof. Dr. Birgit Meyer, Esslingen, Vorsitzende des Beirats Heimerziehung im Baden-Württemberg)
- Fallstudien zum Vortrag „Therapeutische Nacherziehung oder Strafe und Tortur“ (Prof. Dr. Reinhard Sieder, Wien)
- Heimkampagne (Hans-Joachim Seiler, Sozialpädagoge, Ehemaliger der Heimerziehung und Leiter verschiedener stationärer Einrichtungen im Saarland und Prof. Dr. Ulrike Zöller, htw saar)
- Ergebnisse eines qualitativen Interviews mit einem Ehemaligen der Heimerziehung (Natalie Papke-Hirsch, Sonja Schirra, Sandra Zwing, Studierende der „Sozialen Arbeit und Pädagogik der Kindheit“, htw saar)
Den Abendvortrag „Eine verhängnisvolle Verstrickung – Die Zusammenarbeit von Jugendhilfe und Psychiatrie in der Geschichte der Heimerziehung” hielt Prof. Dr. Manfred Kappeler von der Technischen Universität Berlin. Dieser Vortrag, zu dem auch die Fachöffentlichkeit eingeladen wurde, stellte im historischen Rückblick die Auswirkungen des Paradigmenwechsels gegen Ende des 19. Jahrhunderts hinsichtlich der Auffassung von „Verwahrlosung“ dar. Bis dahin wurde „Verwahrlosung“ als eine Folge von Kindern und Jugendlichen in sogenannten verwahrlosenden Lebensbedingungen aufgefasst. In dem Maße, wie die aufstrebende, sich als naturwissenschaftlich verstehende Psychiatrie die „Verwahrlosungserscheinungen“ als überwiegend „angeborene Charakterfehler“ interpretierte, überließen die in der Jugendfürsorge, vor allem in der Heim- und Fürsorgeerziehung, arbeitenden Pädagogen die Definitionsmacht über das „Wesen“ der „Verwahrlosung“ den Psychiatern. Mit eugenischen Kriterien stellten diese einen Katalog von „Verwahrlosungserscheinungen“ auf, auf dessen Grundlage sie der Jugendhilfe Vorschläge zur „Unterbringung“ und „Behandlung“ der mehr oder weniger „erblich belasteten Verwahrlosten“ machten. In jenen Jahren entwickelte sich eine enge Zusammenarbeit zwischen Jugendhilfe und Psychiatrie, aus der für hunderttausende Kinder und Jugendliche, bis hinein in unsere Zeit, viel Leid und Unrecht entstand.
Die Vorträge, die Arbeit in den Workshops und die Diskussionen stellten deutlich heraus, dass es ein Anliegen Sozialer Arbeit sein muss, die Anerkennung des Unrechts und Leids der ehemaligen Heimkinder sowohl ins Bewusstsein einer breiten Öffentlichkeit als auch in das Bewusstsein von zukünftigen und in der Praxis stehenden Fachkräften der Kinder- und Jugendhilfe zu bringen. Die Kinder- und Jugendhilfe muss sich mit dem dunklen Teil der Geschichte von Heimen souverän und aufdeckend auseinandersetzen. Dies spricht für die Qualität und Reflexivität der Kinder- und Jugendhilfe und für eine demokratische Gesellschaft.
Der Blick zurück gibt außerdem Aufschluss darüber, dass es notwendig ist, mit betroffenen ehemaligen Heimkindern in den Dialog zu treten. Die Solidarisierung mit den betroffenen Heimkindern ist dabei grundlegend.
Der Blick nach vorne verweist deutlich auf die Verantwortung, die Fachkräfte Sozialer Arbeit in der Kinder- und Jugendhilfe haben. Die Grundlage für das Handeln bieten die Menschen- und Kinderrechte, die ständig im Rahmen von kollegialer Beratung reflektiert werden müssen. Das Nachdenken über Schutzkonzepte und Beschwerdeverfahren muss konsequent verfolgt werden.
Der Studientag hat insgesamt gezeigt, dass die „Geschichte der Heimerziehung“ facettenreich ist und zu einem festen Bestandteil der Lehre und Forschung an der htw saar gehört.
Vielleicht ist ja auch dies für einige der Studierenden hier von Interesse. […]
Jetzt schon mal erscheint diesbezüglich folgende Veröffentlichung in der Fachzeitschrift Sozial.Geschichte Online 19 (2016) S. 61–113
Ein unterdrücktes und verdrängtes Kapitel der Heimgeschichte – Arzneimittelstudien an Heimkindern, SILVIA WAGNER, Sozial.Geschichte Online 19 (2016)
http://duepublico.uni-duisburg-essen.de/servlets/DerivateServlet/Derivate-42079/04_Wagner_Heime.pdf
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Arzneimittelstudien an Heimkindern.
Heimkinder für Medikamentenstudien missbraucht.
*Medikamententests an Heimkindern in WESTDEUTSCHLAND*
Kurzhinweis! : Promotion : Dr. rer. nat. Sylvia Wagner : „Arzneimittelprüfungen an Heimkindern von 1949 bis 1975 in der Bundesrepublik Deutschland“ : (14.10.2019) https://docserv.uni-duesseldorf.de/servlets/DerivateServlet/Derivate-54600/Diss%20Sylvia%20Wagner-1.pdf
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